Grundthesen:

1. Es gibt keine zeitlose Ethik.

2. Die ethische Zeitkonzeption ist nicht linear zu denken.

3. Ethik und Zeit stehen in einem Wechselverhältnis.

4. Das Proprium theologisch-christlicher Ethik besteht darin, Zeitlichkeit und Ewigkeit zusammenzudenken.


Ausführliche Thesenreihe:

1. Thesen zur Ethikdefinition

1.1. Unter Ethik verstehen wir die reflexive Durchdringung von Lebensweisen hinsichtlich ihrer leitenden Nor­men mit dem Ziel einer Bewertung. Sie vollzieht sich in viel­fäl­ti­gen Sprach- und Ausdrucksformen, sie ist kontext- und zeitgebunden und bedarf der intra- und in­ter­sub­jek­ti­ven Kommunikation.

1.2. Wir grenzen uns damit gegenüber einseitigen Begriffsexplikationen und einengender Systematisierungen in der ethischen Theoriebildung ab wie z.B. dem kontextuell geprägten Begriff der Sittlichkeit und Moral, einer strikten Trennung von Moral, Ethik und Metaethik oder von präskriptiver und deskriptiver Ethik. Insbesondere sind wir bemüht, die Reflexionsformen in den antiken Schriften nicht in Begriffskorsette der späteren philosophischen und theologischen Tradition zu pressen.

1.3. Theologische Ethik verbindet nach unserem Verständnis die reflexive Durchdringung mit den biblischen Texten und dem christlichen Glauben.

2. Konkretisierung: Thesen zur narrativen Ethik

2.1. In (biblischen) Narrationen erkennen wir ethisches Potential in der Evidenz ihrer Bilder, der Polyvalenz ihrer Normen, der Multiperspektivität ihrer Figuren, ihrer Zeit- und Raummodulationen, ihrer semantisch-kognitiven sowie psychologisch-emotiven Sinnpotentiale, der Dialogizität und Appellativität ihrer Sprache und in ihrem Anspruch auf Kanonizität und überindividuelle Verbindlichkeit (formale Bestimmung).

2.2. Eine narrative Ethik blickt auf den ganzen Menschen. Sie reagiert auf seine intuitiv-körperliche, reflexive, soziale und zeitliche Verfasstheit: Erzählungen bewahren sowohl kasuistische Konkretion als auch die Möglichkeit der individuellen Reflexion und flexiblen Anwendbarkeit (anthropologische Bestimmung).

2.3. Die Funktion narrativer Ethik ist die Einübung von Aufmerksamkeit und Sprachkompetenz. Aufmerksamkeit für die Perspektiven und Wertungen früherer, gegenwärtiger und zukünftiger Mitmenschen, für bewährte Traditionen und notwendige Innovation, für Fremdheit und eigene Identität, für Konflikte und Lösungsmöglichkeiten (funktionale Bestimmung).

2.4. Narrative Ethik trägt dem Umstand Rechnung, dass wir uns als Wortgeschöpfe (creaturae verbi) in die umfassende „story“ Gottes verstrickt verstehen (theologische Bestimmung).

 

3. Konkretisierung: Thesen zur Zeitdimension der Ethik

3.1. Es gibt keine zeitlose Ethik.

Selbst wenn der Gegenstand der Ethik als zeitlos aufgefasst wird, gibt es doch keine zeitlose Ethik.

Denn erstens sind Handlungsentscheidungen nicht zeitlos: Durch die Mehrdimensionalität einer Handlung (z.B. in Bezug auf Motiv, Art und Weise, Ziel und Zweck, Irreversibilität) muss ebenso eine zeitliche Mehrdimensionalität derselben berücksichtigt werden. Handlungsentscheidungen werden sowohl durch Rückgriff auf die Vergangenheit (z.B. Schrifttradition), die Gegenwart (z.B. Stimmung) als auch die Zukunft (z.B. Angst vor negativen Konse­quenzen) bestimmt.

Zweitens ist die Reflexion einer Handlungsentscheidung mit dem Ziel moralischer Wer­tung nie zeitlos: Eine solche ist immer zeitgebunden, indem beispielsweise eine Be­trach­tung vollzogener Handlungen auf die vergangene Zeit bezogen ist.

Drittens ist die Beziehung zwischen Handlungsentscheidung und ihrer Reflexion nicht zeitlos: Die zeitliche (sowie räumliche) Distanz zwischen beiden beeinflusst letztere we­sentlich.

3.2. Die ethische Zeitkonzeption ist nicht linear zu denken.

Zeitlicher Rekurs auf die Vergangenheit durch polyvalente Erinnerung (Schuld und Bundestreue) oder die Zukunft durch polyvalente Er­wartungen (Hoffnungen oder Befürchtungen) bestimmen dabei die Gegenwart durch eine Vergegenwärtigung der vergangenen oder künftigen Zeitdimensionen. Daraus er­gibt sich eine Akkumulation zeitlicher Perspektiven in der Gegenwart einer Handlung und Dynamisierung der Zeitmodi.

3.3. Ethik und Zeit stehen in einem Wechselverhältnis.

Ethik muss sich der gegenwärtigen „Zeitkonzeption“ im Unterschied zu vergangenen „Zeit­konzeptionen“ bewusst werden, um menschliche Handlungen verstehen und einordnen zu können, da sie unmittelbar von der Zeit beeinflusst sind. Ethik wird durch die Zeit beeinflusst, umgekehrt bedarf es auch eines ethischen Blicks auf den Umgang mit Zeit.

3.4. Das Proprium theologisch-christlicher Ethik besteht darin, Zeitlichkeit und Ewigkeit zusammenzudenken.

Sie spricht den Menschen in seiner Endlichkeit an und bezieht ihn gleichzeitig auf die Ewigkeit Gottes i.S. der Wirklichkeit Gottes. Auf diese Weise verbindet sie die Zeitgebundenheit und Zeit­enthobenheit des Menschen ebenso wie seine Verantwortung gegenüber Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem und seine Freiheit für das Handeln in der Gegenwart.

 

4. Konkretisierung: Thesen zur Bedeutung der Vergangenheit in der Ethik

4.1. Die Vergangenheit stellt den Erfahrungsfundus zur Verfügung, der unseren Erwartungs- und Handlungshorizont eröffnet wie begrenzt. Dieser Fundus speist sich sowohl aus individueller Erinnerung als auch aus überindividueller Geschichtsschreibung und kollektiven Narrativen. Vergangenes ist der Reflexion daher immer nur vermittelt zugänglich.

4.2. Erinnerungsprozesse sind dabei stets sinnbildende Prozesse, die sowohl individuelle als auch kollektive Identität stiften, somit die Lebensweise prägen und den Hintergrund ihrer Bewertung in der Ethik bereitstellen.

4.3. Ein theologischer Blick auf die Vergangenheit weiß sich dabei nicht unvoreingenommen, sondern sieht die eigene Geschichte qualifiziert durch die Treue Gottes. Die biblischen Texte und die daran anschließenden christlichen Traditionen ergeben in ihrer Pluralität der Überlieferungen ein differenziertes Bild der Rede von dieser stetigen und doch immer individuell neu erfahrenen Treue Gottes zu seinen Geschöpfen.

4.4. Die jeweilige Vergangenheit ist auch in jeder Situation ethischer Reflexion von Lebensweisen implizit (möglicherweise auch explizit) von Bedeutung: Ereignisse der Vergangenheit haben dazu geführt, dass die Situation in dieser konkreten Weise konstituiert ist (z.B. im Aufeinandertreffen bestimmter Personen, Tradierung bestimmter Konflikte oder Eintreffen bestimmter Koinzidenzen). Des Weiteren sind auch Lebensweisen und Normen von Traditionen und Erfahrungen geprägt, die der bewussten Erinnerung nur teilweise zugänglich sind. Auch innovative Ansätze zur Normenbildung können sich aus diesem vorgeprägten Kontext nicht lösen. Die Vergangenheit ist also auch da von Bedeutung, wo sie nicht Teil der bewussten Erinnerung ist.

 

5.Konkretisierung: Thesen zur Bedeutung der Gegenwart in der Ethik

5.1. Jedes gegenwärtige Handeln des Menschen wird wesentlich von der bewussten oder vorbewussten Wahrnehmung seiner Endlichkeit (mit-)bestimmt. Entsprechend sollte auch die ethische Reflexion die Dimension der Endlichkeit einbeziehen.

5.2. Leben in einer gemeinsamen Gegenwart erfordert die Synchronisierung von subjektivem Zeiterleben, intersubjektiver Zeitkonzeption und objektiven Zeitregimen.

5.3. Eine „Ethik der Gegenwart“ kann nicht formuliert werden, da sie Gefahr laufen würde, unserem komplexen Zeitverständnis aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht gerecht zu werden. Eine Ethik muss stets „Ethik der Gegenwart“ sein, insofern sie den Menschen und seine Geschichte, aus der er handelt, immer auch in seinem Hier und Jetzt begreifen muss.

 

6. Konkretisierung: Thesen zur Bedeutung der Zukunft in der Ethik  

6.1. Ethik steht stets im Spannungsverhältnis von der Unverfügbarkeit der Zukunft und der Notwendigkeit ihrer Antizipation. Diese und die relative Verantwortung für die Zukunft können dabei ausgerichtet sein auf unmittelbare und langfristige Wirkungen für das eigene Leben sowie das folgender Generationen (aktuelle Situationserfordernisse, mittelfristiger Nutzen, Nachhaltigkeit etc.).

6.2. Die reflexive Durchdringung von Lebensweisen in Hinblick auf die Zukunft vollzieht sich in Gestalt von sprachlich vermittelter Imagination (Metaphern, Narrationen, logische Schlussfolgerungen, Gedankenexperimente etc.) und liegt bereits in der Lebensweise selbst. Insofern Sprache immer schon mehr ausdrückt als der Sprecher intendiert, „denkt“ und „fühlt“ sie uns permanent „voraus“.

6.3. Aus theologischer Perspektive ist die antizipierte Bewertung des Lebensganzen von absoluten Zukunftsprognosen dadurch entlastet und gleichzeitig begrenzt, dass die letztendliche Bewertung Gott selbst obliegt. In dieser Entlastung und Begrenzung entsteht der Freiheitsraum zur verantwortlichen Gestaltung der Zukunft im Vertrauen auf das Eingebettetsein in die übergreifende Geschichte Gottes mit den Menschen.

6.4. Theologische Ethik zeichnet sich nicht nur dadurch aus, vom vorzeitlichen Ursprung her zu denken, sondern auch dadurch, über das Ende der Zeit hinaus zu denken. Dadurch, dass das Ende der Zeit (der neue Äon) schon in der Zeit (durch Kreuzestod und Auferstehung Christi) eingeläutet ist, wirkt die Zukunft in besonderer Weise in die Gegenwart hinein. Wir können von einer engen Verschränkung von der Zukunft Gottes und der je individuellen menschlichen Gegenwart sprechen.

6.5. Theologische Zukunftsnarrative (Allversöhnung, doppelter Ausgang, vollständiges Vergehen) prägen die emotionale Haltung zur Zukunft. Diese durchaus divergenten Bilder und Narrative müssen weder harmonisiert, noch selektiert werden, da sie unterschiedlichen Kontexten Rechnung tragen und in diesen Berechtigung finden. Sie miteinander ins Gespräch zu bringen, bereichert die ethische Reflexion. Aus unserer Sicht bestimmt sich theologische Ethik ohnehin nicht nur vom – wie auch immer prognostizierten – eschatologischen Ausgang, sondern von der ganzen Geschichte Gottes mit den Menschen.